Die im ersten Teil dieses Beitrags exemplarisch geschilderten Beispiele aus dem Nachwuchsbereich finden sich in Japan vielfach bestätigt. Die jungen Japaner laufen die Konkurrenz in Übersee in Grund und Boden. Vermutlich können in der Leistungsbreite dieser Jahrgänge selbst die ansonsten dominierenden Ostafrikaner kaum mithalten.
Probleme mit der professionellen Elite
Es ist dann jedoch sehr überraschend, wenn man feststellen muss, dass sich diese Dominanz auch nicht in Ansätzen in den Leistungen der japanischen Männerelite im Vergleich zur absoluten Weltklasse widerspiegelt. Dieses Segment wird fast im Monopol von afrikanischen Läufern besetzt. Die Gründe hierfür sind sicher vielschichtig, zum Teil auch gar nicht zu benennen.
Eine erste mögliche Ursache könnte man in der fehlenden Stimulation von außergewöhnlichen Höchstleistungen im japanischen System sehen, das sich auf den Erfolg eines Teams fokussiert, anstatt den singulären Ausreißer nach oben zu fördern. Es hilft dann auch wenig, wenn z.B. aktuell eine recht große Anzahl japanischer Marathonläufer Zeiten zwischen 2:09 und 2:15 Stunden erreichen. Bei dieser breiten Basis fehlen die Ausnahmekönner im Regime von 2:06 Stunden und schneller, die dann auch international vorne mitrennen. Gemessen an den Leistungen im Nachwuchsbereich nimmt sich der Landesrekord im Marathon der Männer durch Toshinari Takaoka von 2:06:16 fast bescheiden aus. Diese Bestmarke wurde bereits 2002 beim Chicago Marathon aufgestellt, trotzdem scheint dieser Rekord für Läufer auf der Insel momentan außer Reichweite. Dazu gesellt sich ein nationaler Verband (JAAF = Japan Association of Athletics Federations), der in beispielloser Sturheit über Jahre solche Realitäten verkannte und mit völlig überzogenen Normen sowie mehr als fragwürdigen Nominierungen für die Teams bei internationalen Meisterschaften einen nicht unerheblichen Beitrag zu diesen Entwicklungen zu verantworten hat.
Präsentation der Eliteathleten beim Tokyo Marathon 2017. Mit den Topläufern kann die japanische Männerelite aktuell nicht mithalten. (c) Brett Larner
Daran hat auch die Organisation der professionellen Laufszene in Form von Firmenteams wenig ändern können, die ähnlich wie in unseren Breiten die Rennställe im Profi-Radsport agieren. Dabei fokussiert man sich auf die Veranstaltungen im eigenen Land, bei denen die Teams vor allem bei den traditionellen Staffelläufen präsent sind und dies aus Gründen des Marketings auch müssen. Starts im Ausland sind somit zusätzlicher Ballast und stehen nicht im Mittelpunkt der Trainings- und Wettkampfplanung. Weiterhin gibt es vom Jetlag durch die Zeitverschiebung bis zum fremden kulturellen Umfeld diverse Gründe für japanische Läufer im Profisegment, Auslandsreisen keine Prioritäten zuzuordnen. Paradoxerweise sind es insbesondere die Japan lebende afrikanischen Läufer – mittlerweile als willkommene Verstärkung der etablierten Teams gesehen -, die von der ausgezeichneten Infrastruktur in Japan profitieren und auch international erfolgreich sind. Das vielleicht prominenteste Beispiel war Samuel Wanjiru aus Kenia, der es neben Weltrekorden zu Siegen in großen Stadt-Marathonläufen sowie bei den Olympischen Spielen brachte. Der Verlust des Kloster ähnlichen Umfelds und der strikten Betreuung nach der Rückkehr in sein Heimatland waren der Anfang seines Abstiegs, der mit seinem viel zu frühen Tod ein Ende fand.
Samuel Wanjiru profitierte in seiner (kurzen) Karriere vom japanischen System der Corporate Teams. (c) H. Winter
Ein weiterer Grund fehlendet Spitzenleistungen basiert auf der Vermutung, dass das einmalige Leistungsniveau der jungen Japaner durch ein fast aberwitzig hartes Training erkauft wird. Die potentiellen Leistungsträger wirken im Erwachsenenalter schlichtweg ausgebrannt. Die Defizite im Vergleich mit der internationalen Elite sind allen Beteiligten durchaus bewusst. Aber in der landestypischen Auseinandersetzung mit unangenehmen Fakten hat man die Dinge lange verdrängt. In einer Variante von „splendid isolation“ fokussiert man sich lieber auf die heimische Laufszene und ist sehr eingeschränkt an dem interessiert, was sich außerhalb des Landes zuträgt. Dies gilt bezeichnender Weise für beide Richtungen eines Informationsaustauschs zwischen Japan und Übersee.
Die Laufszene Japans: ein gigantischer Komplex
Denn in gleicher Weise wie bei uns nach wie vor wenig aus der Laufszene Japans bekannt ist, unternimmt man im Land der aufgehenden Sonne kaum Anstrengungen, die Dinge in unserem Kulturkreis bekannter zu machen. Dabei könnten wir gerade in Sachen „Laufen“ von vielen Erfahrungen aus Fernost profitieren. Während bei uns der Laufsport als Wirtschaftsfaktor eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint, ist in Japan die Laufszene in einen gigantischen Komplex eingebettet, in dem sehr homogen alle Beteiligten ihre effizienten Beiträge leisten.
Der Aufwand bei TV-Übertragung von Laufveranstaltungen in Japan ist enorm hoch, entsprechend hochwertig ist die Qualität der Sendungen. (c) H. Winter
Dies beginnt bei den Medien, die in hervorragender Weise das Interesse am Laufsport hoch halten. Kein Tag vergeht im Land, an dem nicht in ausführlichen Berichten in den Printmedien aktuelle Nachrichten und Hintergründe aus der Laufszene thematisiert werden. Wie schon oben ausgeführt, spielt das Fernsehen eine essentielle Rolle. Dabei liefern die TV-Anstalten glänzende Arbeit ab. Was dort für die zahlreichen Übertragungen von Laufveranstaltungen an spezieller technischer Ausrüstung und sportlicher Expertise aufgefahren wird, ist weltweit unerreicht. Die TV-Macher auf der Insel sind offenkundig willens, die hohe Verantwortung einer angemessenen und hoch kompetenten Öffentlichkeitsarbeit zu tragen. Damit wurden sie eine treibende Kraft einer grandiosen Erfolgsgeschichte. Ernüchternd fällt der Vergleich mit dem Angebot und der Qualität unserer öffentlich-rechtlichen Anstalten mehr als blamabel aus. Die wirksame Unterstützung aus diesem Segment ist dem Laufsport in Deutschland schon seit langem verloren gegangen, mit verheerenden Konsequenzen für die Akzeptanz dieser Sportart in der breiten Öffentlichkeit.
Die Perfektion bei Laufveranstaltungen in Japan bleibt unerreicht. Selbst bei Kinderläufen erfolgt der Start synchronisiert zu definierten (Zeit-)Standards. (c) H. Winter
Der „Rest“ ist dann in Japan fast ein Selbstläufer. Durch seine hohe Popularität ist das Laufen prominent in der Gesellschaft verankert, was die Basis einer profunden Förderung in allen Bereichen der Öffentlichkeit, von den Schulen bis zu den Universitäten, bildet. Darauf fußt ein kommerziell hoch profitabler Bereich mit perfektem Marketing und hohen Umsätzen. Logistik und Organisation von Laufevents verfügen in Japan über einen Grad an Perfektion, der selbst auf globaler Skala unerreicht bleibt. Über z.B. asynchrone Zeitanzeigen bei selbst bedeutenden Events in unseren Breiten können japanische Organisatoren nur höflich lächeln.
Der Tokyo Marathon erzwingt die Öffnung nach außen
Solche Fakten mögen in Ansätzen erklären, warum in Japan ein geringes Interesse am Laufsport außerhalb des Landes entwickelt ist. Dabei folgt die Abgeschlossenheit nach außen einer langen generellen Tradition im Lande. Als prominentes Beispiel mag hier der Fukuoka Marathon Anfang Dezember dienen, der strikten Traditionen folgend, den Anschluss an die absolute Weltspitze zunehmend verloren hat. Dies war bis vor ca. 30 Jahren einmal anders. Damals waren die „Fukuoka International Marathon Championchips“ das Nonplusultra der globalen Laufszene, bei denen wenige eingeladene ausländische Eliteathleten – das waren damals die vermeintlich Besten der Szene – gegen die japanische Elite antraten. Im Prinzip waren diese Läufe inoffizielle Weltmeisterschaften über die Marathondistanz. Der erste Lauf eines Menschen unter 2:10 Stunden durch Derek Clayton (AUS) in 2:08:36 im Jahr 1967 und die Weltbestleistung seines Landsmanns Rob de Castella in 2:08:18 im Jahr 1981 zeugen noch heute von glorreichen Tagen.
Start zum Fukuoka Marathon, in jedem Jahr pünktlich um 12:10:00 Uhr. (c) H. Winter
Diese Zeiten sind lange vorbei. Die Etablierung von Stadtmarathonläufen auch im Rest der Welt, verbunden mit der zunehmenden Dominanz (ost-)afrikanischer Läufer haben die südjapanische Hafenstadt fast in die Zweitklassigkeit verdammt. In landestypischer Sturheit verharrt man gerade in Fukuoka in den Traditionen, an denen vom Böllerschuss 20 Minuten vor dem Start bis zum Schließen der Stadiontore des Heiwadai-Stadions nach 2:45 Stunden Laufzeit aber auch nichts verändert wird. Und so „läuft“ man in Fukuoka seit vielen Jahren der internationalen Leistungsentwicklung hinterher. Ähnliches gilt für die beiden anderen Klassiker auf japanischem Boden, die Anfang Februar und März über die Bühne gehen: der Beppu-Oita Marathon sowie der „Biwako“ am Lake Biwa in Otsu.
In diesem Jahr gab es beim Beppu Oita Marathon mit Kentaro Nakamoto wieder einmal einen japanischen Sieger. (c) TBS-Screenshot
Doch in zunehmendem Maße kann man sich auch in Japan den aus der Globalisierung des Laufens ergebenden Konsequenzen nicht mehr vollends verschließen. Die Aufnahme des Tokyo Marathon nach seiner Umstrukturierung als Massenevent – schon dies ein Meilenstein und Bruch in der traditionsbehafteten Struktur von ausschließlichen Elite-Marathons – in die Serie der „World Marathon Majors“ hat den Druck auf die Veranstalter ungemein erhöht, sich den internationalen Standards zu öffnen. Durch hohe Preisgelder, große Felder an Eliteathleten, hochkarätige Tempomacher, etc. hat sich ein Bruch mit Traditionen vollzogen. Dabei hat man auch mit der Zurückhaltung gebrochen, auf (fremde!) Erfahrungen von außerhalb zu bauen. Emsig haben sich die Verantwortlichen aus Tokyo bei den Machern der führenden Events in New York City oder in Berlin genauestens umgeschaut, um deren Konzepte angemessen zu integrieren.
Dank Wilson Kipsang und seiner Siegerzeit von 2:03:58 mischt der Tokyo Marathon seit Februar 2017 in der Weltspitze des Marathon mit. (c) NTV-Screenshot
Mit den großartigen Zeiten im Februar dieses Jahres durch Wilson Kipsang von 2:03:58 und Sarah Chepchirchir (beide Kenia) von 2:19:47 belegt der Tokyo im globalen Ranking des Jahres Spitzenplätze. Damit eröffnen sich neue Leistungsdimensionen für die Veranstaltungen im Lande, die auch die Leistungen junger japanischer Läufer auf dem Sprung in die Eliteklasse motivieren sollten. Die mutigen Rennen im Marathon von Newcomern aus den letzten Hakone-Generationen lassen mit Blick auf Olympia 2020 in Tokyo Hoffnungen aufkommen.
Auch bei den Frauen gab es beim Tokyo Marathon 2017 durch Sarah Chepchirchir (KEN) mit 2:19:47 eine herausragende Leistung. (c) NTV-Screenshot
Wichtig war auch die Vorreiter-Rolle des Tokyo Marathon hinsichtlich der Entwicklung der Massen-Marathonläufe im Lande. War der Marathon vor gut 10 Jahren weitgehend der Elite vorbehalten, öffneten sich in schneller Folge immer mehr Veranstaltungen dem Breitensport. Im Jahr 2015 gab es landesweit mehr als 20 Läufe mit mehr als 10000 Teilnehmern, womit man mit fast 600.000 Finishern die USA überholen konnte. Und die Nachfrage bleibt ungebrochen, mehr als 350.000 Anmeldungen liegen den Organisatoren in Tokyo jedes Jahr vor, von denen dann nur gut 30.000 auf die Stecken gehen dürfen.
Durch die Öffnung der Marathonläufe in Japan für die “Massen” nahm dort die Anzahl der “Spaßläufer” ernorm zu. (c) H. Winter
Ein „Robin Hood“ auf Japans Straßen
Einen Anteil überkommene Strukturen in der Laufszene aufzubrechen, kann auch dem Lauf-Unikum und Vielfachstarter Yuki Kawauchi zugestanden werden, der kürzlich an seinem 30. Geburtstag für das Marathon-Team seines Landes für die WM im August in London nominiert wurde. Nur wer die starren Strukturen in der japanischen Gesellschaft einmal erfahren hat, kann ermessen, wie mutig sein gegen alle Konventionen gerichtetes Verhalten ist. Dabei lebt er mit einer Konsequenz seine Prinzipien, dass die große Schar seiner Bewunderer im Lande stetig steigt. Wer Yuki bei seinen (häufigen) Starts bei Volksläufen in der Provinz erlebt hat, bekommt eindrucksvolle Impressionen von seiner extremen Popularität, die er geduldig ohne jede Allüren erträgt.
Bei der Bevölkerung in seinem Land nimmt Yuki schon lange einen Kultstatus ein. (c) H. Winter
Seine extrem häufigen Starts auf hohem Niveau machen ihn schon heute zu einer Legende. Die beste Zeit eines deutschen Läufers im aktuellen Jahr 2017 beträgt 2:17:06. Yuki ist in seiner bisherigen Karriere bereits 58 (!) Mal schneller gelaufen. Von seinen 65 Läufen unter 2:20 Stunden lief er 45-mal unter 2:15 Stunden, 22-mal blieb er unter 2:12 Stunden. Seine persönliche Bestzeit steht seit einigen Jahren bei 2:08:14, erzielt bei Seoul Marathon.
“König Yuki” hält Hof, wie hier nach der Pressekonferenz beim Fukuoka Marathon. (c) H. Winter
Natürlich können seine Starts in aberwitzig dichter Folge nicht Beispiel für neue Konzepte sein, auch sein Amateur-Status als vollbeschäftigter Angestellter in der Verwaltung einer High School ist für den Wettstreit mit der Weltelite gewiss von Nachteil. Aber mit eiserner Konsequenz lebt Yuki seine Prinzipien und findet neben Neid aus dem professionellen Lager immer mehr Mitstreiter im Land, die es wagen neue Wege zu beschreiten.
Yuki Kawauchi nähert sich beim Prag Marathon 2017 dem Ziel. (c) H. Winter
Sind Yukis Marathonzeiten allein schon durch seine nur mittelmäßigen Zeiten auf den Unterdistanzen in Richtung absoluter Weltklasse begrenzt, so sind es vor allem sein Beispiel gebender Kampf bis über jedes Limit hinaus und seine zielstrebige Aufrichtigkeit, die im Bereich der japanischen Männer-Elite für frischen Wind und auf allen Ebenen für Nachahmer gesorgt haben. Somit trägt auch Yuki zu Umwälzungen in der japanischen Laufszene bei, die noch lange nicht abgeschlossen sind.
Yuki bekam beim Fukuoka Marathon von einem deutschen Laufmagazin das Modell eines VW-Käfers überreicht, getreu nach dem Werbeslogan: “Er läuft und läuft und läuft …”. (c) Winter
Der “Kawauchi Counter” für das Jahr 2017 © Brett Larner, Japan Running News |
||||
8.1.2017 | Ikinoshima Half Marathon | Nagasaki | 1:06:35 | 1. |
15.1.20017 | Okukuma Half Marathon | Kumamoto | 1:04:17 | 6. |
5.2.2017 | Ehime Marathon | Ehime | 2:09:54 CR | 1. |
26.2.2017 | Soja Kibiji Half Marathon | Okayama | 1:04:52 | 2. |
5.3.2017 | Kanaguri Hai Tamana HM | Kumamoto | 1:03:19 | 3. |
12.3.2017 | Tanegashima Rocket HM | Kagoshima | 1:04:43 CR | 1. |
19.3.2017 | Kuki Half Marathon | Saitama | 1:05:03 | 1. |
26.3.2017 | Kamisato Machi Kenmu HM | Saitama | 1:05:33 CR | 1. |
2.4.2017 | Daegu Int. Marathon | Süd-Korea | 2:13:04 | 6. |
23.4.2017 | Gifu Seiryu Half Marathon | Gifu | 1:04:06 | 15. |
30.4.2017 | Kawauchi no Sato Kaeru HM | Fukushima | 1:05:31 CR | 1. |
7.5.2017 | Prag International Marathon | Prag | 2:10:13 | 6. |
14.5.2017 | Sendai International HM | Miyagi | 1:03:29 | 11. |
28.5.2017 | Kinshuko Road Race HM | Iwate | 1:05:20 CR | 1. |
3.6.2017 | Stockholm Marathon | Stockholm | 2:14:06 | 6. |
18.6.2017 | Okinoshima Ultra 50 km | Shimane | 2:47:35 | 1. |
2.7.2017 | Gold Coast Airport Marathon | Brisbane | 2:09:18 | 3. |
6.8.2017 | WM Marathon | London | ||
16.9.2017 | Oslo Marathon | Oslo | ||
5.11.2017 | Marathon des Alpes-Maritimes | Nice-Cannes | ||
18.11.2017 | Ageo City Halbmarathon | Saitama | ||
12.11.2017 | Saitama Marathon | Saitama |
Der 1. Teil dieses Beitrags erschien in “RUNNING – Das Laufmagazin” im Heft Juni/Juli 4/2017 (Nr. 180), der 2. Teil im Heft August /September 5/2017 (Nr. 181).
Informationen aus erster Hand gibt es von Brett Larner und Mika Tokairin von den “Japan Running News”.