“The long distance” – Ein filmisches Meisterwerk über die globale Laufszene

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Es hat sich längst herumgesprochen, dass die schnellen Läuferinnen und Läufer fast ausschließlich aus den Höhen Ostafrikas kommen. Diese dominieren das Elitesegment bei den großen Läufen fast im Monopol, wobei dabei die Rekorde und die Sieger im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Dass dabei viele Akteure auch auf den weiteren Plätzen landen, interessiert schon weniger. Dabei stellen doch gerade diese Läufer das Gros der Elite dar, siegen kann immer nur Eine(r).

Und um diese Problematik geht es in dem sehr gelungen Werk des Jungfilmers Daniel Sager, der dezidiert den Weg zeigt, wie die afrikanischen Läufer aus dem heimatlichen Umfeld den Weg auf unsere Straßen finden. Dass sich da weit mehr ereignet als nur die kurze Zeit während eines Laufs, versteht sich von selbst und ist in beeindruckenden Szenen umgesetzt. Dieser Film ist kein Report über grandiose Erfolge und großes Geld, es gibt fast mehr Schatten als Licht. Was dabei wirklich fasziniert ist die Offenheit und der Mut dazu mit der alle Akteure in dieser Dokumentation agieren und zu Wort kommen. Das spricht alles für sich selbst und braucht keinen Kommentar, den es auch nicht gibt.

volker-wagner-film-2015Manager, Trainer und Physiotherapeut Volker Wagner gibt Anweisungen bei der Rekrutierung von kenianischen Athleten in deren Heimat.  (c) ZDF

Am Ende bleibt man etwas ratlos zurück und wundert sich, nicht schon einmal früher über diese Thematik etwas tiefer nachgedacht zu haben. Auch insofern war ein solcher Film mehr als überfällig. Warum allerdings das liebe ZDF eine solch grandiose Dokumentation um 23:55 auf den Sender bringt, nachdem zuvor die Tiefen des Unterschichten nahen TVs zu ertagen waren, bleibt ein Rätsel. Unser Tip: UNBEDINGT anschauen!

Hier folgt eine Rezension von René Martens in der Wochenzeitung “DIE ZEIT“:

Kenia ist die dominierende Nation im Marathonlauf, Athleten aus dem ostafrikanischen Land belegen regelmäßig die bestens dotierten vorderen Plätze bei den großen Events in New York, London, Berlin, Hamburg. Die Hoffnung, auf diese Weise vor der Armut davonlaufen zu können, treibt jede Saison unzählige Kenianer in die reichen Länder. Sie sind nicht nur bei Ereignissen mit großer Strahlkraft dabei, sie suchen ihr Glück auch bei Marathon- oder Halbmarathonläufen in der Provinz, wo manchmal nur ein paar Hundert Euro als Prämie winken. In Paderborn zum Beispiel, beim jährlichen Osterlauf.

Bei solchen Rennen trifft man oft den Manager Volker Wagner, einer der Protagonisten in Daniel Sagers Dokumentarfilm The Long Distance, den das ZDF in seinem Nachtprogramm zeigt. Der Mittsechziger aus Detmold holt Läufer und Läuferinnen für mehrere Wochen von Kenia nach Deutschland, meldet sie bei verschiedenen Rennen an und bringt sie in einem seiner Bungalows unter. “Seit 27 Jahren” mache er das, betont Wagner im Film mehrmals. Sein Lohn: 15 Prozent Provision vom Preisgeld. Damit ist auch sein Problem benannt: Wenn zu viele seiner Schützlinge nicht genug Prämien erlaufen, um ihm das Geld zurückzuzahlen, das er, etwa für Flugtickets, vorgestreckt hat, macht er Verlust.

The Long Distance ist Daniel Sagers Abschlussarbeit an der Filmakademie Baden-Württemberg. Der Film, der gerade den First Steps Award gewonnen hat, beginnt in der kenianischen Bergregion Eldoret. Dort fristen zwei Schützlinge Wagners ein ärmliches Dasein in Lehmhütten. Felix, Mitte 20, macht ein bisschen in Viehwirtschaft und hofft, von einem Preisgeld eine Solaranlage kaufen zu können; Eunice, Anfang 30, kümmert sich um ihren Vater und hofft, dass sie bald genug Geld haben wird, ihre Tochter zu sich holen. Die lebt derzeit bei Eunices Schwester.

Sager beschreibt, wie aus den unterschiedlichen Hoffnungen Abhängigkeitsverhältnisse entstehen. Druck herrscht auf beiden Seiten, denn Wagner war zwar als Strippenzieher einst eine große Nummer, seine Schützlinge liefen Weltrekorde. Doch heute lebt er vor allem von seinen Erinnerungen. Andere Manager, die ebenfalls Gruppen afrikanischer Läufer unter Vertrag nehmen, sind längst erfolgreicher als er. Und dann macht ihm auch noch eine perfide Verschärfung der Visumsregelungen zu schaffen. 3.000 Euro Kaution muss er für jeden Läufer hinterlegen – für den Fall, dass sie nach ihren Rennen nicht nach Kenia zurückkehren, sondern hier Asyl beantragen. Aber Wagner will nicht aufgeben, er ist ein Sturkopf.

In seiner Verzweiflung drängt er Eunice dazu, zwei Marathonläufe innerhalb eines Monats zu bestreiten. In Gutsherrenart treibt er sie zu etwas an, was nicht zu verantworten ist. Über 90 Filmminuten bleibt der Machertyp Wagner eine ambivalente Figur: Mal wirkt er fürsorglich, mal gnadenlos – oft aber auch hilflos. Das gilt für jene Passagen, in denen seine Geldprobleme zum Greifen nah sind. Wagners Ehefrau Natalya scheint es geradezu darauf angelegt zu haben, die finanzielle Misere der Familie vor der Kamera immer wieder zur Sprache zu bringen.

Bemerkenswert ist, dass es Regisseur Sager gelungen ist, solche privaten Konfliktszenen einzufangen. Ähnlich stark, wenn auch aus anderen Gründen, sind die Passagen, die bei den Rennen in Paderborn und anderswo entstanden sind. Mehrere Superzeitlupeneinstellungen zeigen, wie brutal dieser Sport ist, zumindest für jene, die, anders als die hier startenden Freizeitsportler, nicht für ihre Gesundheit laufen, sondern gewissermaßen um ihr Leben.

Dass The Long Distance Assoziationen zu den aktuellen weltweiten Fluchtbewegungen auslöst, bleibt nicht aus: Der Film erzählt von Menschen, die in einer ihnen völlig unbekannten Welt das Glück suchen, das zu Hause nicht zu haben ist. Felix und Eunice laufen aber nicht weg. Das wird nicht zuletzt deutlich in Szenen, in denen sie bestenfalls belustigt die Usancen in Deutschland kommentieren. Wo die Menschen “an Eier glauben” (eine Anspielung auf Ostern) und “die Hunde Jacken tragen, wenn es regnet”, wollen Felix und Eunice gar nicht leben.